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Das Wunder der Technik

Tante Emma und Onkel Heini hatten uns am zweiten Weihnachtstag zu sich eingeladen. Das machen sie jedes Jahr. Sie haben nämlich kein Kinder. Tante Emma verwöhnt uns sehr, "denn uns sind eigene Kinder versagt." Tante Emma schenkt uns dann immer ganz seltene Sachen. Letztes Jahr hat es für die Mädchen Puppen gegeben, Riesenpuppen mit langen, blonden Haaren. Die konnten reden. wenn man auf den Bauch drückte, mit ganz komischen Stimmen, so wie der Wellensittich von Roland, wenn er watend ist. Der Onkel Heini findet technische Sachen prima. "Ich schwärme für die Wunderwerke der Technik," sagt er immer und baut diese Sachen an den tollsten Stellen ein. Der ist klasse der Onkel Heini. Tante Emma mag am liebsten ganz viel glänzendes Zeug, besonders Weihnachten. Frauen sind komisch. Die Wände in der Weihnachtsstube sind alle mit dunkelrotem Stoff überzogen, "damit es feierlich aussieht, "meint Tante Emma. Ich hätte viel lieber Bilder von Schauspielerinnen oder aus dem Playboy an die Wände gehängt, das wäre für mich viel feierlicher gewesen. (Wenn es die Eltern erlaubten) In der wandverhüllten Stube steht auch der Weihnachtsbaum. Der ist prächtig und vor allem mächtig. Er ist ganz voll mit Geglitzer ,mit vielen Kugeln dran: 36 rote, 36 blaue, 42 goldene, 65 silberne und dann noch unzählige Tannenzapfen, Glocken, Figuren und Sterne in allen Größen und Farben. Dann hängen noch jede Menge Ketten mit Silber- und Goldperlen, Lametta und Watteflöckchen dran, dass man vom Baum nichts mehr sehen kann. Und da wo man noch einen Rest vom Grün des Baumes erblicken konnte, hängen Engel, Vogelkäfige, Sonne, Mond, Sterne, Weihnachtsmänner und alles was aus Gebäck und Schokolade an den Baum zu hängen ist. Nach den Feiertagen dürfen wir die Sachen essen, das ist dann prima. Bei Tante Emma und Onkel Heini ist es Weihnachten ganz anders als bei uns Zuhause nicht besser eben anders. So sind wir auch dieses Jahr zu Tante Emma und Onkel Heini gegangen. In den komischen Matrosenanzügen, die nicht schmutzig werden dürfen, kann man nichts vernünftiges unternehmen, und dann diese steifen Kragen, oh. wie die am Hals kratzen und die Mädchen mit in weißen langen Kleidern mit rosa Streifen und roten Schleifen -lauter Geburtstagsgeschenke von Tante Emma. Wir mussten uns im Gang aufstellen, wie die Zinnsoldaten, mussten uns an den Händen halten und dann hat Tante Emma uns ganz feierlich zugeflüstert: "Kinder. heute kommt eine große Überraschung." Dann hat sie mit einem Glöckchen geläutet und ist langsam voran zur Weihnachtsstube gegangen. Und da stand der Baum, riesig groß und er hat toll geglitzert und gefunkelt, nur die Kerzen waren diesmal elektrisch. Das war sehr schade, die kann man nicht auspusten und man kann keine Tannenzweige anbrennen. Das qualmt dann so schön und alle müssen husten. Die eigentliche Überraschung sollte aber erst noch kommen. Onkel Heini war schon ganz nervös und aufgedreht. Er stellte uns wie die Orgelpfeifen um den Baum und dann mussten wir singen. Zuerst "Ihr Kinderlein kommet", dann "Vom Himmel hoch" und "Stille Nacht." Und wir sollten ja nicht aufhören zu singen wenn die Überraschung kommt. Mitten im ersten Lied ist Onkel Heini zum Baum geflitzt hat sich vor ihm hingekniet und unten rumgefummelt. Und dann hat sich der Baum plötzlich bewegt, er fing an sich ganz langsam zu drehen. Wir haben vor Überraschung aufgehört zu singen. Onkel Heini hat ganz aufgeregt gerufen: "Weitersingen!" Doch als wir gerade wieder anfangen wollten ertönte es vom Baum :"Kling, pling, pling, piong, kling, ping. Das sollte die Melodie von "Ihr Kinderlein kommet" sein, hat sich aber angehört als wenn meine kleine Schwester Klavierübungen macht. Der Baum drehte sich langsam und klimperte so vor sich hin. Wir haben gesungen und ehrfurchtsvoll den Baum angesehen und es war ganz toll und feierlich. Tante Emma hatte schon feuchte Augen und Onkel Heini dunkelrote Wangen vor Freude und Aufregung. Mitten in der zweiten Strophe drehte sich der Baum etwas schneller - O/kommet/doch/all und dann immer schneller - Ihr Kinderlein/kommet/o/kommet/doch/all. Wir haben gekeucht weil wir so schnell nicht singen konnten und am Baum haben die Kugeln und Ketten geklimpert und die Zweige gerauscht. Wir haben dann aufgehört zu singen und nur noch zum Baum geschaut. Das war eine Überraschung. Im Baum sind Elefanten hinter den Engeln hergejagt und der Nikolaus hat sich mit einem Indianer geprügelt, und die Kugeln, Sterne und Süßigkeiten, einfach alles am Baum befestigte rutschte unaufhaltsam an den Zweigen nach außen. Ketten und Lametta, Kugeln und Apfel standen fast waagerecht vom Baum ab ."Zentrifugalkraft," hat Onkel Heini gerade noch rufen können, da kamen auch schon die ersten Kugeln geflogen. Klick und klack machte es, wenn die Kugeln an der Wand oder auf dem Fußboden zerplatzten. Der Baum feuerte nicht schlecht und Tante Emma hatte schon Lametta in den Haaren. Peng, da hatte Onkel Heini eine große blaue Kugel mit Zackenmuster an den Kopf gekriegt und die Krippe auf der Anrichte erhielt einen Volltreffer durch einen Apfel. Er erwischte die drei Weisen aus dem Morgenland voll von vorn. Dicht dahinter flog der Nikolaus, der Indianer hatte also gewonnen. "Heini stell sofort dieses schreckliche Ding ab, "hat Tante Emma hinter dem Sofa hervorgerufen, hinter dem sie in Deckung gegangen war. "Denk an die Kinder", rief sie mit einer ganz unnatürlichen hohen Stimme. Aber der Onkel konnte nicht, wenn er auch wollte, denn das Wunderwerk der Technik war ganz unten unter dem Baum und da kam er nicht dran weil der Baum sich so schnell drehte. Die Ketten fingen auch schon an sich abzuwickeln und um den Baum schwebten viele Watteflöckchen und auf dem Fußboden lagen ganz viele Splitter von den Kugeln. Aber plötzlich wurde der Baum wieder langsamer und das Wunderwerk hat jetzt "Vom Himmel hoch" gespielt, so als wäre gar nichts gewesen. Nur, dass der Baum jetzt leer war, bis auf die Kerzen. Die standen nur nicht mehr so gerade wie vorher. Ach ja, und der Indianer war auch noch an seinem Platz, ihm hatte die Überraschung nichts ausgemacht. Indianer sind tapfere Krieger. Wir haben rasch die Süßigkeiten vom Boden aufgesammelt, unsere Geschenke geschnappt und sind schnell nach Haus gegangen. An der Tür hörten wir nur Tante Emma mit heiserer Stimme sagen: "Heini ab sofort ist Schluss mit jeglicher Technik, diese Überraschung reicht mir bis zum Lebensende."

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